Konzentriert arbeitet Regina Thierstein am 200-jährigen Webstuhl im Wohnhaus aus Blatten VS(1111). Schwungvoll lässt sie das Webschiffchen zwischen den aufgespannten Kettfäden von einer Seite zur anderen gleiten und tritt in einer klar festgelegten Reihenfolge sorgfältig auf die Fusspedalen. Damit werden die Kettfäden angehoben und gesenkt und fixieren den Schussfaden, der sich aus dem glattpolierten Webschiffchen abwickelt. Stück für Stück entsteht so die Grundstruktur des Stoffes. Um bunte Muster nach alter Tradition einzuweben, zählt Regina Thierstein die Kettfäden von Hand einzeln ab und schiebt einen sogenannten Einlesestab dazwischen, um sie zu fixieren. Mithilfe eines Schiffchens mit buntem Garn, webt sie so Streifen, Sterne oder sogar Bienen in den Stoff ein. Die Arbeit erfordert Geduld und höchste Konzentration. Je nach Dicke des Garns wächst die Stoffbahn schneller oder langsamer. An einem Meter ungemusterten Halbleinenstoff arbeiten die Weberinnen rund eine Stunde.
Der Webstuhl steht in der Stube nahe beim Fenster, wo es besonders hell ist. Für das Überleben vieler Bauersfamilien war er zentral und nimmt genau so viel Raum ein wie die anderen Einrichtungsgegenstände, ein Esstisch, ein Bett und ein Kachelofen. In kleinen Bergdörfern, wie Blatten, wob man lange für den Eigengebrauch oder lokale Märkte, während im Mittelland viele Familien im Auftrag von Unternehmern arbeiteten. Sie produzierten Leinen oder Baumwolle am Meter, die unverziert, bestickt oder bedruckt in der ganzen Schweiz, aber auch im Ausland verkauft wurden.
Wer für sich selbst produzierte, nähte aus den Stoffen Geschirrtücher, Bettwäsche, Kleidung oder Gebrauchsgegenstände wie zum Beispiel Vorratssäcke. Im Wallis, wo viele Schafe gehalten wurden, wob man ausserdem wärmende Wolldecken.
Regina Thierstein und ihr Team zeigen das alte Handwerk mit traditionellen Materialien. Sie verweben Wolle, stellen Leinen und Halbleinen her und verarbeiten Reststoffe zu Flickenteppichen – ganz wie früher, als man nichts wegwarf, sondern alles weiterverwendete. Als gelernte Gewebegestalterin verbindet Regina Thierstein Tradition und Innovation. In der Webstube in Blatten VS (1111) können daher nicht nur klassische Geschirrtücher oder Brotsäcke aus Leinen, sondern auch farbenfrohe Nateletuis, Teppiche, Taschen oder Schals gekauft werden.
Ein Teil der Leinenprodukte wird aus ballenbergeigenem Flachs hergestellt, der im Frühling auf unseren Feldern wächst und im Herbst im Rahmen der Veranstaltung «Brächete» zu feinen Fasern weiterverarbeitet wird. An diesem Wochenende lässt sich Schritt für Schritt mitverfolgen, was es braucht, um Leinenstoff selber herzustellen. Was früher auf dem Lande weit verbreitet war, mutet heute fast exotisch an: Der Flachs wird geriffelt, geröstet, gebrochen, gehächelt, versponnen und verwoben. Jede Arbeit wird von Hand mit einfachsten Geräten ausgeführt. Man braucht nie eine Steckdose und alle Teile des ursprünglichen Produkts werden verwertet, es gibt keinen «Abfall».